Emotionen sind konstruierte Kategorien
Emotionen sind konstruierte Kategorien
Spätestens seit Platon glauben die meisten Menschen, dass Emotionen bestimmte Charakteristika aufweisen.
Erzählt beispielsweise jemand bewegt und mit zitternder Stimme von einem traurigen Ereignis, dann wird im Gehirn der „Trauer-Schaltkreis“ mit verschiedenen körperlichen Reaktionen angeregt und die Zuhörenden fangen womöglich an zu weinen. Vergleichbare Schaltkreise, so die klassische Auffassung, gibt es auch für Wut, Angst, Glück, Überraschung und andere Emotionen. Diese lassen sich anhand charakteristischer Gesichtsausdrücke und anderer Reaktionen des Körpers vermeintlich eindeutig identifizieren, quasi so, als hätte jede Emotion ihren eigenen Fingerabdruck.
Jede Kultur kennt ihre eigenen Emotionen
Die Vorstellung, jede Emotion hätte einen Fingerabdruck, hält wissenschaftlichen Überprüfungen nicht stand. Dennoch hält sie sich hartnäckig.
Grund dafür ist eine US-amerikanische Studie aus den 1960er-Jahren. In dieser wurden Fotoserien angefertigt, die Gesichter mit typischen Posen für 6 Basisemotionen (Glück, Trauer, Überraschung, Angst, Wut, Abscheu) zeigen. Neben jeweils einem dieser Fotos listeten die Wissenschaftler alle 6 Basisemotionen auf. Testpersonen sollten den am besten zum Bild passenden Begriff markieren.
In Ländern wie Chile, Estland, der Schweiz, Italien oder Schweden waren im Schnitt 85 Prozent der Angaben korrekt. In anderen, den USA weniger ähnlichen Kulturen wie Malaysia, Äthiopien oder der Türkei lagen die richtigen Antworten lediglich bei 72 Prozent.
Mit dieser „Basisemotionsmethode“ wollten die Forschenden beweisen, dass Gefühle weltweit erkannt und den Gesichtern eindeutig zugeordnet werden. Zahlreiche Folgestudien interpretierten die Ergebnisse genau in diesem Sinne. So verfestigte sich der „Mythos der universellen Emotion“.
Letztlich fanden sich jedoch keinerlei Beweise für die Universalität von Emotionen, und damit ist die Basisemotionsmethode nicht mehr zu halten.
Mit dieser Theorie der universellen Emotionen, der schwere methodische Fehler zugrunde liegen, räumt die renommierte Emotionsforscherin Lisa Feldman Barrett auf. Sie zeigt, dass Emotionen konstruierte Kategorien sind, die erlernt werden. Jede Kultur kennt also ihre eigenen Emotionen.
Emotionen im Recruiting
Emotionen spielen im Recruiting eine große Rolle. Und zu der Entscheidungsfindung, wo man am liebsten arbeiten möchte, zählen nicht mehr nur harte Fakten wie Gehalt, Benefits und Leitbild. Immer mehr treten auch Emotionen in den Vordergrund bei der Arbeitsplatzwahl. Und da kann es zu Fehlinterpretationen und folglich zu Fehlentscheidungen kommen, da verschiedene Kulturen ihre eigenen Emotionen kennen, die nicht universell sind.
Zum Beispiel teilen wir das Farbspektrum des Regenbogens in 6 Farben ein, weil wir entsprechende Farbkonzepte, die wir Rot, Orange, Gelb usw. nennen, von klein auf gelernt haben. Tatsächlich besteht ein Regenbogen aber nicht aus 6 Streifen, sondern aus fließenden Übergängen im gesamten Farbspektrum.
Russen teilen unsere Farbe Blau in 2 verschiedene Farben mit unterschiedlichen Bezeichnungen ein. Sie sehen beim Regenbogen demzufolge 7 Streifen. Farbkonzepte sind also künstlich und kulturabhängig.
Ebenso verhält es sich mit Emotionen. Auch sie sind Kategorien bzw. Konzepte. Kategorien sind zusammengefasste Ereignisse, Objekte oder Aktionen. Konzepte sind die mentalen Repräsentationen von Kategorien. Emotionen als Kategorien bzw. Konzepte setzen sich aus mehreren Instanzen zusammen, wie Gesichtsbewegungen, Herzfrequenz oder Stimmlage.
Neugeborene haben noch keine Konzepte und müssen erst lernen, sich in der Welt zu orientieren. Sie beobachten ihre Umwelt und die Menschen in ihrer Nähe und versuchen, Muster zu erkennen und die Welt um sich herum zu ordnen. Sprache spielt dabei eine wichtige Rolle. Wörter stehen für Konzepte. Kleinkinder verbinden Objekte mit Wörtern, indem sie etwa lernen, was mit dem Wort „Blume“ bezeichnet wird.
Genauso lernen sie, Emotionen mit ihren vielfältigen Instanzen bei sich und anderen zu erkennen. Dabei ist ein Gefühl nicht klar definiert. Wut beispielsweise kann sich darin äußern, zu weinen oder Türen zuzuschlagen. Wenn Erwachsene so unterschiedliche Aktionen als Wut bezeichnen, lernen Kinder, dass all diese Instanzen zum Konzept Wut gehören. So konstruieren wir von Klein an das Konzept Wut und verfeinern es immer weiter. Wir lernen, welche Instanzen zu diesem Konzept gehören und welche besser zu anderen Konzepten wie Glück oder Angst passen. Wut hat, ebenso wie alle anderen Emotionen, keinen Fingerabdruck.
Es gibt also kein universelles Emotionskonzept. Zum Konzept der Emotion Wut zählen alle Instanzen, die als Wut bezeichnet werden. Und da Konzepte von Begriffen zusammengehalten werden, sind sie abhängig von Kultur und Sprache. Andere Kulturen können andere Kategorien haben.
Für das englische Konzept von Wut kennt das Deutsche 3. Der deutsche Begriff "Schadenfreude" wurde aufs Englische übernommen, weil das Englische kein Wort für dieses Gefühl kannte.
Es gibt Hunderte oder gar Tausende unterscheidbare Gefühle, die zu Konzepten kombiniert werden. Menschen, die über sehr viele Konzepte verfügen und diese benennen können, haben eine hohe emotionale Granularität. Damit geht tendenziell eine höhere emotionale Intelligenz einher, denn sie können ihre Reaktionen präziser auf ihre Gefühle abstimmen.
Menschen mit niedriger emotionaler Granularität verfügen hingegen nur über wenige Basisemotionen und können Gefühle lediglich eingeschränkt wahrnehmen. Ihnen fehlen schlicht die Begriffe und Konzepte für eine differenzierte Sicht. Innerhalb einer Kultur werden die erlernten Emotionskonzepte an die nächste Generation weitergegeben. Sie sind Bestandteil der Sozialisierung. Andere Kulturkreise können mit ihnen möglicherweise nichts anfangen. Aber sie haben wiederum Emotionskonzepte und Bezeichnungen, die uns unbekannt sind. Wer länger in einem fremden Kulturkreis lebt, kann dessen Konzepte jedoch erlernen. Deswegen ist es Zeit für einen Paradigmenwechsel. Wir sollten nicht länger nach Gehirnarealen suchen, in denen vermeintlich Gefühle entstehen, oder nach Fingerabdrücken von Emotionen fahnden. Stattdessen sollten wir genauer herausfinden, wie wir Emotionen konstruieren. So könnten wir unser Selbstbild sowie Klischees überwinden und Bewerbungsgespräche professioneller gestalten.
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